Während der Umweltministerrat einen Kompromiss zum 2040-Klimaziel verabschiedet hat, der die 90 Prozent nur noch als Etikett trägt, hat der Industrieausschuss des Europaparlaments heute eine Position beschlossen, die Verlässlichkeit und Substanz in die Klimapolitik bringt.
Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, kommentiert dazu:
Das Ziel von 90 Prozent wäre ein Schritt in die richtige Richtung, aber am Ende könnten nur 80 Prozent bei rauskommen. Der Rat beschließt ein Ziel voller Revisionsklauseln, Senken-Ausreden und neuen Hintertüren. Statt Klimaschutz landen die Ministerinnen und Minister beim politischen Selbstbetrug.
Es wurde mit Zitronen gehandelt, denn dieses Ziel wurde mit der Verschiebung des Emissionshandels für Gebäude und Verkehr erkauft. Weniger Klimaschutz für ein starkes Klimaziel, diese Gleichung geht nicht auf. Die Bundesregierung hat diesem Kuhhandel zugestimmt. Jetzt muss sie mit zusätzlichen Maßnahmen wie einem schnelleren Hochlauf der Elektromobilität gegensteuern, sonst kann Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen.
Die fünf Prozent internationale Zertifikate sind Etikettenschwindel. Statt echten Klimaschutz zu liefern, führt dieser Beschluss die Öffentlichkeit an der Nase herum. Das grenzt an modernen Ablasshandel, der in Wahrheit zu fast doppelt so vielen CO2-Ausstoß im Jahr 2040 führt.
Da die Minister beschlossen haben, dass möglicherweise Wälder und Böden keine Klimaziele mehr erfüllen müssen, könnte das tatsächliche Klimaziel noch weniger werden.
Das NDC ist eine Blamage für Europa auf internationaler Bühne. Es ist so unambitioniert, dass sich Friedrich Merz schämen muss, damit auf der Klimakonferenz aufzukreuzen.
Im Gegensatz dazu hat das Europäische Parlament heute gezeigt, dass guter Klimaschutz möglich ist. Der Industrieausschuss hat einen Meilenstein für Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit beschlossen. Es ist es gelungen, die 3 Prozent internationale Zertifikate stark einzugrenzen und mit strengen Qualitätsstandards zu versehen. Besser wäre es ohne internationale Zertifikate, aber so gibt es einen realistischen Rahmen.
Hintergrund zur Entscheidung des Umweltrates
Das 90-Prozent-Ziel bleibt bestehen, aber mit extremer Verwässerung
Nach mehr als 12 Stunden Beratung hat sich der Rat der Umweltminister:innen auf eine gemeinsame Position zum 2040-Klimaziel geeinigt. Bis auf Polen, Bulgarien, Tschechien, Ungarn und die Slowakei haben alle anderen Mitgliedstaaten dafür gestimmt; Belgien hat sich enthalten.
Die Einigung auf das 90% (de facto 85% + 5%) wurde jedoch teuer erkauft:
- Erhöhung der Menge der internationalen Zertifikate auf 5 % und Ausrichtung des europäischen Frameworks auf 85%: Der Rat hat sich darauf geeinigt, statt wie von der EU-Kommission vorgeschlagenen 3 Prozent der Zielerfüllung durch internationale CO2-Emissionszertifikate zu erreichen, 5 Prozent internationale Zertifikate auf das europäische Klimaziel anzurechnen. Konkret bedeutet das eine innereuropäische Emissionsreduktion um 85% plus 5% internationale Zertifikate. Das bedeutet 50% mehr EU-Netto-Emissionen im Jahr 2040. Der Text ist bezüglich des Startdatums und damit der Gesamtmenge der Zertifikate, die auf das 2040er-Ziel angerechnet wird, nicht eindeutig. Beginnt die Anrechnung schon ab 2031 wären es bis 2040 1300 Mio. Zertifikate; beginnt sie erst ab 2036, wären es etwa 700 Mio. Zertifikate.
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Durch die Revisionsklausel könnte das Ziel 2029 weiter abgeschwächt werden: Nach dem nächsten Global Stocktake soll eine Revision stattfinden, in der geprüft wird, ob die Mitgliedsstaaten fünf Prozent internationale Zertifikate nutzen können, um ihre post-2030-Ziele zu erfüllen.
Zusätzlich könnte eine von Frankreich eingeforderte “Notfallklausel” für den LULUCF-Bereich dazu führen, dass die Mitgliedsstaaten ihre Ziele in diesem Bereich nicht erfüllen müssen. Das Ziel für Wälder und Böden ist es, im Vergleich zu 1990 zusätzlich 350 Megatonnen CO2 zu speichern. Sollten Wälder und Böden nicht mehr CO2 speichern, was absehbar ist, denn sie sind von Bränden, Dürren und Borkenkäfer geplagt, so muss eine Zielverfehlung nicht durch einen anderen Sektor ausgeglichen werden. De facto bedeutet es, dass das Klimaziel um weitere Prozentpunkte abgesenkt wird. -
Schwächung des ETS 1: Der Absatz, dass internationale Zertifikate nicht im ETS genutzt werden können, ist verschwunden. Zudem soll die Kommission ab 2028 einen langsameren Phase-out der kostenlosen Zertifikate prüfen.
- Verschiebung des ETS 2 um ein Jahr: Der Start des ETS2 wird auf 2028 verschoben.
- Schwächung der Vorgaben im Verkehrsbereich: Zusätzlich zur Schwächung des ETS begrüßt der Rat den angekündigten Vorschlag zur Revision der CO2-Flottengrenzwerte und spricht sich dafür aus, dabei “Technologieneutralität” zu berücksichtigen. Zudem soll die Kommission insgesamt die Rolle von “zero-, low carbon und renewable fuels” stärker in ihrer Gestaltung des Post-2030-Frameworks berücksichtigen.
Ein schwaches NDC für 2035
Zudem hat der Rat auch ein schwaches NDC für 2035 verabschiedet – es bleibt bei der Range von 66,25% bis 72,5%. Damit fährt die EU ohne glaubwürdiges Klimaziel zur COP nach Brasilien.
Eine solche Einigung ist schwer mit dem Völkerrecht vereinbar.
Ein kürzlich veröffentlichtes Gutachten der Kanzlei Rechtsanwälte Günther im Auftrag der Greens/EFA kommt zu dem Schluss, dass die EU braucht ihr 1.5-Grad-Budget selbst nach sehr großzügigen Maßstäben vor 2030 aufbraucht, was zu einer "carbon debt" führt und damit der Verpflichtung, (1) Emissionen innerhalb der EU so schnell wie möglich zu reduzieren, (2) natürliche und technische Senken innerhalb der EU so schnell wie möglich zu stärken und auszubauen sowie (3) andere Staaten bei ihrer Emissionsreduktion zu unterstützen. Größtmögliche Anstrengungen sind in allen dieser drei Säulen geboten. Ein innereuropäisches 2040er-Ziel von unter 90% wäre auf Grundlage der Rechtsprechung des IGH und EGMR völkerrechtswidrig. Verabschieden die EU und die Mitgliedsstaaten dennoch ein solches Ziel und bauen die Klimaschutzarchitektur darauf auf, besteht erhebliche Rechtsunsicherheit sowohl für Unternehmen als auch für staatliche Akteure – Klagen sind in mehreren Formen denkbar.
Wie es jetzt im EU-Parlament weiter geht
Die Abstimmung im federführenden Umweltausschuss erfolgt am 11. November – und wenn alles nach Plan läuft, folgt am 13. November die Abstimmung im Plenum.
Hintergrund zur Stellungnahme des Industrieausschusses
Nach der Entscheidung im Rat der Umweltminister:innen gestern gibt es nun endlich auch eine erste Parlamentsposition zum 2040er-Klimaziel. Der Industrieausschuss hat heute über seine Stellungnahme („opinion“) zu diesem wichtigen Klimagesetz abgestimmt. Zwar ist diese formell für den Hauptausschuss, in diesem Fall den Umweltausschuss, nicht bindend, doch die Macht und Orientierungskraft des als konservativ geltenden Industrieausschusses ist nicht zu unterschätzen. Im Umweltausschuss herrscht aufgrund des rechtsradikalen Berichterstatters Chaos - die Verhandlungen haben dort noch nicht einmal richtig begonnen. Und selbst wenn es gelingt, dort einen Kompromiss zu finden, hätte eine schwache Position des Industrieausschusses das Risiko beinhaltet, dass die konservativeren Mitglieder der Europäischen Volkspartei bei einer finalen Plenumsabstimmung des Parlaments den Kompromiss des Umweltausschusses sabotieren.
Doch die nun verabschiedete Position des Industrieausschusses ist alles andere als schwach: Die 90% stehen - was angesichts der eingereichten Änderungsanträge keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Zudem enthält die Stellungnahme einige Verbesserungen gegenüber dem Kommissionsvorschlag, insbesondere:
- Die Begrenzung der Menge internationaler Zertifikate: Zwar finden sich die 3% internationalen Zertifikate auch in diesem Vorschlag wieder - allerdings ist es uns gelungen, sie auf die minimale Auslegung von 142 Mt CO2-Äq im Zeitraum von 2036 bis 2040 zu begrenzen. Aus dem Kommissionsvorschlag ging nämlich nicht hervor, auf was sich die 3% beziehen - je nach Auslegungsmethode hätten es auch 427 Mt CO2-Äq im gleichen Zeitraum sein können (s. dazu im Detail Öko-Institut).
- Qualitätsstandards für internationale Zertifikate: Der Kompromiss sieht den Zusatz vor, dass nur permanente Zertifikate auf das Klimaziel angerechnet werden - damit ist ausgeschlossen, dass dauerhafte Emissionen gegen nicht-dauerhafte Kohlenstoffsenken aufgerechnet werden. So wird z.B. verhindert, dass durch das Pflanzen von Bäumen (die dem Risiko von Waldbränden und Kalamitäten ausgesetzt sind), Industrieemissionen aus dem ETS kompensiert werden können.
Außerdem wurde konkretisiert, dass Art. 6 (4) und nicht Art. 6 (2) des Pariser Abkommens gemeint ist. Unter Art. 6 (4) wurde in den letzten Monaten ein internationaler Standard entwickelt, der nach Meinung von Expert:innen der beste ist, den es bislang auf zwischenstaatlicher Ebene gab. Damit wird sichergestellt, dass die EU in Kooperation mit anderen Staaten diesen „Goldstandard“ übernimmt und nicht - wie unter Art. 6 (2) möglich - irgendwelche Standards aushandelt.
- Eingrenzung der CO2-Entnahmen im ETS auf BECCS und DACCS: Bedauerlicherweise sieht der Kommissionsvorschlag vor, dass die Kommission die Rolle von permanenten CO2-Entnahmen im ETS für ihre künftige Klimaschutzarchitektur untersuchen soll. Dies ist besonders problematisch, weil laut dem europäischen Carbon Removal Certification Framework auch Biokohle als „permanent“ gilt - obwohl bezüglich der angewendeten Methodik von Expert:innen harsche Kritik geübt wurde. Die Eingrenzung auf BECCS und DACCS stellt sicher, dass Biokohle nicht in den ETS integriert und so das System mit eine enormen Menge Zertifikate zweifelhafter Qualität geflutet werden kann.
Natürlich enthält der Kompromiss auch einige Zugeständnisse, die nicht im Sinne des Klimaschutzes sind: Eine Revisionsklausel, die vorsieht, dass die Kommission 2028 einen Bericht über die Fortschritte vorlegen muss, der auch von einem Gesetzesvorschlag begleitet werden kann. Wir als Grüne hätten uns auch eine stärkere Sprache zum Ausschluss der internationalen Zertifikate aus dem ETS gewünscht. Trotzdem ist der Kompromiss angesichts der konservativen Prägung des Industrieausschusses aber wirklich ein Erfolg - und stellt eine gute Grundlage für die Verhandlungen im Umweltausschuss dar, der kommende Woche über das 2040er-Ziel abstimmen soll. Wenn alles gut geht, könnte dann noch Ende nächster Woche eine Parlamentsposition stehen.