Michael Bloss, klima- und industriepolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, kommentiert die heute vorgestellte neue Industriestrategie der Grünen/ EFA-Fraktion:
Wir brauchen einen grünen Boost für die Wirtschaft. Dazu schlagen wir eine neue Industriepolitik für Europa vor. Mit Mensch und Klima im Fokus und Zukunftsfähigkeit im Blick können wir 25 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen.
Der bisherige Kurs der Kommission führt in eine Sackgasse. Die Klimakrise und die aggressive Politik der USA und China verlangen, dass Europa seine Kräfte bündelt und eine echte gemeinsame Industriepolitik betreibt. Wir sind zu abhängig und werden von anderen, wie China, abgehängt mit gravierenden Folgen für Arbeitsplätze, Wirtschaft und Umwelt.
Der neue Business-Case von Europa ist günstige Erneuerbare Energie. Wir brauchen jetzt einen beschleunigten Ausbau von Netzen, von Flexibilität und erneuerbarer Energien. Sonne und Wind sind Rückgrat einer neuen, wettbewerbsfähigen europäischen Wirtschaft und Industrie.
Neue LNG-Terminals, wie aus Plänen der EU Kommission hervorgeht, sind - egal ob in Europa oder Übersee - ein gefährlicher Irrweg. Stattdessen müssen wir auf heimische, saubere Energieträger setzen, um Abhängigkeiten zu reduzieren und unsere Energieversorgung krisenfest zu machen.
Aber die Energiewende allein reicht nicht. Europa muss die technologische Spitze in Schlüsselindustrien zurückerobern. GreenTech, Windkraft, Elektrolyseure, Wärmepumpen und Batterien bieten enorme wirtschaftliche Chancen.
Europa darf nicht länger bloß als Absatzmarkt für deutsche Produkte herhalten, es muss zum Motor für Innovation und industrielle Exzellenz werden. Doch das gelingt nur mit einem ganzheitlichen Ansatz eines geeinten Europas, das Wirtschaft, Soziales und Umwelt in Einklang bringt. Nur so können wir die wachsenden globalen Herausforderungen meistern.
Zu den Kernforderungen für eine neue Industriepolitik
Europa steht vor einer entscheidenden Wahl: Entweder gelingt der Wandel hin zu einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Industrie, oder der Kontinent riskiert, wirtschaftlich den Anschluss zu verlieren – mit weitreichenden Folgen für Mensch und Klima. Um eine zukunftsfähige und starke Industrie in Europa zu sichern, sind gezielte Maßnahmen erforderlich. Die Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament hat diese in einem umfassenden Industriepapier zusammengefasst. Die zentralen Punkte werden im Folgenden näher erläutert.1. „Made in Europe“ als Erfolgsmodell
1. „Europäisch Kooperieren“ als Erfolgsmodell
Zunächst muss die Industriepolitik auf europäischer Ebene kohärent koordiniert werden. Das setzt voraus, dass führende Städte wie Madrid, Paris, Berlin und Warschau bereit sind, einen Teil ihrer nationalen Entscheidungskompetenzen abzugeben. Denn wenn jedes Land in Europa versucht, alleine wirtschaftlich vorzugehen, könnten letztlich Länder wie die USA und China den Wettbewerb zu ihren Gunsten entscheiden und die EU langfristig abhängen.
Ein weiterer entscheidender Schritt ist die Förderung der Produktion in Europa. Europa sollte sich zum weltweit führenden Anbieter in Bereichen wie der Herstellung von Windkraftanlagen, Batterien für Elektrofahrzeuge, Elektromobilität, Energieeffizienztechnologien, Solarpanelen sowie erneuerbarer Energieproduktion und Netzkomponenten entwickeln. Besonders wichtig ist die Dekarbonisierung der Stahl- und Zementindustrie. Zur Unterstützung dieser Entwicklung könnte ein verbindliches Label „Made in Europe“ eingeführt werden, das den europäischen Ursprung dieser Produkte kennzeichnet und gleichzeitig ihre hohe Umweltstandards hervorhebt.
2. Industrielle Elektrifizierung als Schlüssel zur Dekarbonisierung: Ein europäischer Handlungsrahmen
Die Elektrifizierung industrieller Prozesse muss oberste Priorität haben, um die Dekarbonisierung schnellstmöglich voranzutreiben und gleichzeitig Energie für Unternehmen und Haushalte erschwinglicher zu machen.
Der Ausbau erneuerbarer Energien und die Elektrifizierung werden derzeit durch langsame Netzentwicklung und fehlende grenzüberschreitende Verbindungen ausgebremst. Um diesen Engpass zu überwinden, braucht es eine europäische Behörde, die den Netzausbau koordiniert und dabei systemische Anforderungen ganzheitlich betrachtet. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei:
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Der Optimierung der Interkonnektoren zwischen den Ländern
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Der Integration von Energiespeichern
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Der Förderung von Flexibilitätsdiensten
Unternehmen, die in intelligente Elektrifizierung investieren und so zur Senkung der Gesamtnetzkosten beitragen, sollten durch reduzierte Netzentgelte oder gezielte Fördermittel belohnt werden. Ein neuer EU-Rahmen für Netzentgelte muss flexibel auf unterschiedliche Verbrauchsmodelle reagieren. Gleichzeitig dürfen Branchen, die aus technischen Gründen keine Flexibilität bieten können, nicht benachteiligt werden.
Der Netzausbau sollte aus öffentlichen Geldern, insbesondere dem neuen europäischen Wettbewerbsfähigkeitsfonds, finanziert werden. Steigende Netzentgelte dürfen nicht auf die Bürger*innen abgewälzt werden. Die Kosten der industriellen Elektrifizierung müssen von der Wirtschaft und der öffentlichen Hand getragen werden, nicht von den europäischen Haushalten.
Investitionen in die industrielle Elektrifizierung müssen gegenüber anderen Dekarbonisierungsmaßnahmen klar priorisiert werden. Dies gilt insbesondere für die Mittelvergabe aus dem EU-Wettbewerbsfähigkeitsfonds sowie aus bestehenden Förderinstrumenten wie dem EU-ETS-Innovationsfonds, Horizon Europe und den Finanzierungsprogrammen der Europäischen Investitionsbank (EIB).
Neben direkten Investitionsförderungen sollte die Elektrifizierung durch eine vorteilhafte Steuerpolitik unterstützt werden. Konkret bedeutet das:
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Strom sollte dem niedrigsten Steuersatz unterliegen, um industrielle Elektrifizierung wirtschaftlich attraktiver zu machen.
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Fossile Energieträger müssen durch höhere Steuersätze belastet werden, wie es in der geplanten Reform der Energiebesteuerungsrichtlinie vorgesehen ist.
3. Industriepolitik mit strategischem Weitblick: Zukunftsmärkte schaffen und gezielt stärken
Eine erfolgreiche Industriepolitik sollte sich an internationalen Best Practices orientieren und aktiv Märkte für Zukunftsprodukte gestalten. Dabei gilt es, heimische Märkte in der Anfangsphase gezielt zu schützen, um Innovationen und Investitionen zu fördern.
Ein sektorspezifischer Ansatz im Sinne eines Ökosystemmodells ist entscheidend. Dabei müssen klare Vorgaben für folgende Bereiche definiert werden:
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Dekarbonisierung mit verbindlichen CO₂-Reduktionszielen
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Nachhaltige Rohstoffbeschaffung zur Sicherstellung resilienzfähiger Lieferketten
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Zukunftssichere Arbeitsplätze durch gezielte Förderung neuer Industrien
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Ressourcen- und Energieeffizienz mit Fokus auf Kreislaufwirtschaft und Wiederverwertbarkeit
Alle Investitions- und politischen Entscheidungen sollten sich an spezifischen Dekarbonisierungspfaden orientieren, um langfristige Planungssicherheit zu schaffen.
Leitmärkte für grüne Technologien etablieren
Um Investitionen in klimafreundliche Produktionsprozesse zu fördern, müssen Märkte für grüne Produkte geschaffen und deren Nachfrage sichergestellt werden. Ein schneller Markthochlauf setzt voraus, dass einheitliche grüne Produkt- und Beschaffungsstandards rasch festgelegt werden.
Ein zentraler Schritt ist das geplante Gesetz zur Beschleunigung der industriellen Dekarbonisierung („Industry Decarbonisation Accelerator Act“), das bereits bis Ende 2025 europäische Leitmärkte für grünen Stahl und grünen Zement etablieren soll.
Zusätzlich sollte ein CO₂-Schattenpreis im öffentlichen Auftragswesen eingeführt werden. Dieser würde den Preis umweltschädlicher Angebote proportional erhöhen und damit umweltfreundlichen Produkten einen klaren Wettbewerbsvorteil verschaffen. Insbesondere in der Bauindustrie könnte dies ein entscheidender Gamechanger sein.
Wichtige Projekte gemeinsamen europäischen Interesses (IPCEI) sollen schneller genehmigt werden und auch finanziell von der EU unterstützt werden können. Darüber hinaus sollen sie nicht nur auf neue Technologien zugeschnitten werden, sondern auch den Ausbau von Produktionskapazitäten in strategisch wichtigen Sektoren beschleunigen.
Für eine erfolgreiche Transformation braucht es klare Green State Aid Rules, die Umwelt- und Sozialkriterien bei staatlichen Beihilfen sowie öffentliche Beschaffungsregeln mit lokalen Wertschöpfungsanteilen verbindlich festlegen.
Gleichzeitig muss darauf geachtet werden, dass das europäische Beihilferecht nicht so stark dereguliert wird, dass nur wirtschaftsstarke Mitgliedsstaaten mit großzügigen Subventionen profitieren. Ein gemeinsames europäisches Vorgehen ist auch hierbei essenziell, um langfristig globale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
4. Für eine gerechte grüne Industrie: Arbeitnehmer*innen ins Zentrum stellen
Europa verliert aus den Augen, warum wir diesen Wandel vorantreiben: Die Arbeitnehmer*innen müssen im Zentrum der neuen Industrie stehen.
Der Ausbau erneuerbarer Energien bis 2030 könnte in der EU bis zu 25 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Deshalb braucht es:
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Unterstützung aller Beschäftigten bei einem gerechten Übergang, etwa durch Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote.
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Ein europäisches Gesetz für den gerechten Übergang, das soziale Sicherheit gewährleistet.
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EU-Finanzmittel zur Abfederung von Kurzarbeit, um Beschäftigung zu sichern.
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Arbeitszeitregelungen, die Weiterbildung und Umschulung ermöglichen.
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Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung bei Dekarbonisierungsvorhaben.
Ein sozial gerechter Wandel ist der Schlüssel für eine erfolgreiche grüne Industrie in Europa.
Zur Industriestrategie in voller Länge geht es über diesen Link.