EU-Strommarktdesign: Verhandlungsauftakt im Europa-Parlament

Michael Bloss, Verhandlungsführer der Grünen zum Strommarktdesign, kommentiert den Berichtsentwurf des Rapporteurs Nicolas Casares (S&D):

Unser Ziel muss sein: günstiger, grüner Strom für alle - und zwar so schnell wie möglich. Der Berichterstatter Casares schränkt den Ausbau der Erneuerbaren unnötig ein.

Er will die Marktregeln so verdrehen, dass bei allen neuen Windparks und Solaranlagen Gewinne abgeschöpft werden, während Gas und Kohle weiter profitieren. Das ist ein Schritt in die falsche Richtung.

Atom, Gas und Kohle sollen in den Kapazitätsmarkt gehievt werden, um sie als sicher und wichtig zu verkaufen. Dadurch werden sie langfristig mit öffentlichen Geldern gefüttert, ohne dass ihr Bedarf regelmäßig überprüft wird. Das sind lebensverlängernde Maßnahmen für die Klimakiller schlechthin. So ein Kapazitätsmarkt ist teuer für alle Verbraucher*innen und ein Bremsklotz für die Energiewende.

Hier müssen wir in den Verhandlungen nachbessern und einen europäischen Erneuerbaren Booster auf den Weg bringen.

Jetzt ist die Zeit für die Energiewende von unten: mehr Balkonsolar und Bürger*innenenergie, weniger Bürokratie. Das Stromnetz der Zukunft wird alle Wärmepumpen und E-Autos mit grünem Strom versorgen.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Energieversorgung, faire Verträge und Energie-Teilhabe. Niemand sollte aufgrund unbezahlter Rechnungen vom Strom abgeschnitten werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die überhöhten Stromrechnungen des letzten Jahres wiederholen.

EU-Strommarktdesigm Draft Report Rapporteur

EMD Draft Report Rap_1278474EN.docx

Hintergrund vom 12. Mai 2023

Am 14. März 2023 stellt die Kommission ihren lang erwarteten Vorschlag zur Reform des europäischen Strommarktes vor. Nachdem 2023 verschiedene Notfallmaßnahmen beschlossen wurden, um die ungewöhnlich hohen Energiepreise abzufedern, ist dies nun eine ordentliche und unbefristete Reform des Strommarktes, mit Beteiligung des Parlaments.

Grüne Forderungen

  • Wir müssen jetzt den Strommarkt für 100 % erneuerbare Energien vorbereiten. Wir müssen klare Anreize für erneuerbare Energien und nicht-fossile Energiespeicher schaffen und endlich Fossil- und Atomkraft aus dem Markt drängen, da sie teuer sind und unsere Netze verstopfen. Der Vorschlag der Kommission geht in die richtige Richtung, aber er geht nicht weit genug.

 

    • Europäischer Erneuerbaren Booster: Die Mitgliedstaaten haben im Rahmen der Verhandlungen der Erneuerbarenrichtlinie (RED IV) das Erneuerbaren-Ziel auf 42,5% bis 2030 reduziert. Sowohl EU-Kommission als auch das Europäische Parlament sahen 45 % Erneuerbare bis 2030 vor. Die EU muss jetzt Anreize schaffen, diese Ausbaulücke von 2,5 % zu schließen. Im Rahmen des Strommarktdesigns sollen deswegen europäische Investitionsgarantien für Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs) zur Verfügung gestellt werden, um finanzielle Risiken beim Erneuerbaren-Ausbau abzumildern und die Ausbaulücke von 2,5 % zu schließen. Die Garantien sollen mit Finanzmitteln aus RePowerEU abgesichert werden.
    • Die Kommission will Atomenergie die gleichen Rahmenbedingungen wie Erneuerbare geben. Und das, obwohl Atomenergie teuer und gefährlich ist und wir noch immer kein einziges sicheres Langzeitlager in der gesamten EU für Atommüll haben. Von der Abhängigkeit von russischem Uran sowie dem schädlichen Uranabbau gar nicht zu sprechen.

 

  • Wir brauchen ein Strommarkt, der es für Bürger*innen attraktiv macht, selbst Strom zu produzieren (z.B. mit Balkonsolar), ihn mit anderen zu teilen und ihren Stromverbrauch dem aktuellen Strompreis anpassen zu können.
    • Wir stellen jetzt sicher, dass der Umstieg auf die Wärmepumpe funktioniert. Die Planung des Stromnetzes (TNYPs) wird auf Wärmewende und die Verkehrswende abgestimmt. Auf nationaler und europäischer Ebene brauchen wir Sektorkopplung zwischen Strom, Wärme/Kühlung, Verkehr und Industrie.
    • Gleichzeitig müssen wir Energiearmut effizienter bekämpfen und vulnerable Gruppen besser schützen. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist der Vorschlag der Kommission, Stromsperren für vulnerable Verbraucherinnen zu verbieten.

 

Die wichtigsten Vorschläge vom Rapporteur (S&D) im Überblick

  • Grundsätzliche Marktregeln (merit order) bleiben erhalten
  • Krisenmechanismus soll einfacher aktiviert werden können
    • Gewinnabschöpfung ab 180 EUR/MWh für Strom aus Erneuerbaren, Abfall, Atomkraft, Braunkohle und Öl
    • Verteilung der abgeschöpften Gewinne auf Verbraucher*innen, vor allem vulnerable Haushalte
    • Anreize zum Stromsparen für Verbraucher*innen bleiben erhalten
    • "Peak shaving" Produkte lediglich als Kriseninstrumente
  • Kapazitätsmechanismen sollen nicht temporäre, sondern dauerhafte Instrumente werden. Mitgliedsstaaten sollen Vergütungsmechanismen innerhalb der Staatsbeihilferegeln schaffen
  • Verbraucher*innenschutz: garantierter Energiegrundbedarf sowie Verbot von Stromsperren für vulnerable Haushalte
  • Zweiseitige Differenzverträge (CfDs): als alleinige direkte Unterstützungsmöglichkeit für Erneuerbare, nicht nur für neue Kraftwerke, sondern auch für Laufzeitverlängerung und Ausbau von Bestandsanlagen.
  • Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs): Standardisierte Vorlage für Verträge, staatliche Garantien nur für Erneuerbare
  • Flexibilität: Verbindliche Ausbauziele für Mitgliedstaaten für Speicher und "Demand response". Gaskraftwerke sollen zu den Speicherzielen angerechnet werden können.
  • Energieteilhabe + Bürger*innenenergie ("Energy sharing"): Das Teilen von grünem Strom durch Haushalte, kleine und mittelständische Unternehmen, sowie öffentliche Einrichtungen in Verteilernetzen wird ermöglicht.
  • Offshore: Keine Garantie für Anschluss an Übertragungsnetze (Löschung des Kommissionsvorschlags)
  • Terminmärkte: Kommission soll Folgenabschätzung zur Einrichtung von virtuelle Handelsbanken ("virtual hubs") in Terminmärkten vorlegen

Theoretisch hat der Berichterstatter die Möglichkeit, seine Position bis zum 23.5. zu ergänzen.

 

Der Kommissionsvorschlag in der Analyse

Wie sollen exzessive Preissteigerungen in Zukunft vermieden werden?

  • Keine Grundsatz-Reform des Marktes.
    Die Grundprinzipien des Strommarktes bleiben von dem Reformvorschlag unangetastet. Weiterhin sollen das sogenannte “merit order principle" und das „marginal pricing principle“ auf dem Spotmarkt die Preise bestimmen. Das heißt, die Technologien, die am billigsten Strom produzieren (die Erneuerbaren), behalten ihren Wettbewerbsvorteil und dürfen weiterhin als Erstes einspeisen. Der Großhandelspreis am Markt wird auch in Zukunft von der teuersten Technologie (zuletzt Erdgas) bestimmt, die benötigt wird, die bestehende Nachfrage zu befriedigen.
  • Preisstabilisierung durch mehr Langzeitverträge.
    Die Reform zielt darauf ab, Preisschwankungen vor allem durch zusätzliche Anreize für Langzeitverträge vorzubeugen. Erstens sollen Terminmärkte (die über ein Jahr hinausgehen) gestärkt werden, zweitens sollen staatliche Direktförderungen
    in Form von zweiseitigen Differenz-Verträgen zukünftig die Norm für staatliche Förderungen sein, und drittens sollen Stromabnahme-Verträge (PPAs) verstärkt genutzt werden.
    • Terminmärkte sollen durch die Einrichtung von virtuellen Handelspunkten gestärkt werden. Diese sollen die Liquidität im Terminmarkt verbessern, indem sie die derzeitige Marktfragmentierung reduzieren. Eine neu ins Leben gerufene, einheitliche Zuweisungsplattform (single allocation plattform) soll dafür zuständig sein, die Langzeit-Übertragungskapazität zu versteigern.
    • Staatliche Förderung in Form von zweiseitigen Differenzverträgen wird zum einzigen Direkt-Fördermittel für neue Anlagen. Zweiseitige Differenzverträge sollen auch für Laufzeitverlängerungen von existierenden Anlagen (also Atommeilern) genutzt werden können. Feed-in-Tarife sollen voraussichtlich weiterhin erlaubt bleiben.
    • Staatliche oder europäische Kreditgarantien sollen Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs) auch für kleinere Verbraucher*innen (KMUs und eventuelle sogar Bürger*innen) zugänglich machen.

 

Verbessert die Reform den Verbraucher*innenschutz?

  • Ein neues Verbot von Stromsperren für schutzbedürftige Gruppen soll eingeführt werden. Das bedeutet, schutzbedürftigen Gruppe darf der Zugang zu Strom und Heizung selbst dann nicht verwehrt werden, wenn sie ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können.
  • Ein neues Recht auf Energieteilen soll eingeführt werden.
    • Das soll vor allem privaten (Klein)Produzent*innen erlauben, erneuerbare Energie von bis zu 100 MW untereinander zu teilen.
  • Ein neues Recht auf Fixpreis-Verträge wird neben dem Recht zu flexiblen Preis-Verträgen vorgeschlagen.
  • Verbot von einseitigen Preiserhöhungen befristeten Festpreisvertägen
  • Ein neues Recht auf Unterzähler für Strom, die es Verbraucher*innen ermöglichen, für einen Teil ihres Stromverbrauchs von flexible Preise zu profitieren (zum Beispiel für E-Autos oder Wärmepumpen), und gleichzeitig ein Teil ihres Verbrauchs mit einem Festpreis gedeckt ist.
  • Jeder Mitgliedstaat muss einen „Lieferanten der letzten Instanz“ (supplier of last resort) - zumindest - für Haushalte benennen (dies ist bereits in vielen Mitgliedstaaten der Fall, war aber bisher nicht auf EU-Ebene angeordnet).

 

Wie soll in Zukunft mit Preiskrisen umgegangen werden?

Es soll einen neuen Rahmen für Energiepreis-Krisen geben. In Krisenzeiten soll es für Mitgliedstaaten möglich sein, in die Preisgestaltung einzugreifen. Allerdings muss der Eingriff auf 80 % des Verbrauchs der letzten 5 Jahre der jeweiligen Verbraucher*innen begrenzt sein, um Anreize zum Stromsparen beizubehalten.

 

Wie unterstützt die Reform die Dekarbonisierung des Strommarktes?

  • Netzbetreiber*innen müssen Offshore-Windanlagen Zugang zum Netz garantieren. Falls Netzbetreiber*innen eine volle Abnahme des Stroms der Offshore-Anlagen nicht sichern können, müssen Kompensationszahlungen an die Offshore-Windanlagen gezahlt werden.
  • Kurzzeit-Märkte sollen näher zur Realtime agieren, der untertägige Handel soll ab 2028 nicht früher als 30 Minuten vor Realtime schließen. Das gibt Erneuerbaren die Möglichkeit, Peak-Produktion besser am Markt zu verkaufen.
  • Mitgliedstaaten sollen zukünftig bei Auktionen für Erneuerbare Umweltverträglichkeitskriterien, Innovationspotenzial, Systemintegration und Versorgungssicherheit mit in Betracht ziehen.
  • Ein neuer rechtlicher Rahmen für Speicherung und Lastensteuerung (demand response flexibility) soll entstehen. In einem Stromsystem, welches mehr und mehr auf Erneuerbaren basiert, sind effiziente Speicherung und eine volle Nutzung der Lastensteuerung wichtige Komponenten.
    • Netztarife sollen in Zukunft so festgelegt werden, dass Investitions- und Betriebsausgaben der Netzbetreiber in Betracht gezogen werden. Das soll zu mehr Effizienz im System führen.
    • Um den kleineren Erneuerbaren-Produzent*innen, Speichern und Lastensteuerungs-Angebote (demand response flexibility) Marktzugang zu vereinfachen, soll vorgeschlagen werden, das Gebotsminimum von 500 KW auf 100 KW zu senken.
    • Eine neue Bedarfsanalyse für Lastensteuerung im System muss von den Mitgliedstaaten mit Hinblick auf die Dekarbonisierung des Stromsystems ausgearbeitet werden. Allerdings soll diese Analyse auf Daten der Netzbetreiber basieren. Die Analyse soll Basis sein für ein neues unverbindliches Ziel für Lastensteuerung, das die Mitgliedstaaten von nun an, in ihre Klima- und Energiepläne aufnehmen sollen.
    • Lastensteuerung soll auch durch neu eingeführte Spitzenlastmanagement-Produkte besser zur Systemeffizienz beitragen.

 

Welchen Status haben Fossile und Atomenergie unter der Reform?

  • Für Förderungen von Technologien als Kapazitätsmechanismen sollen Mitgliedstaaten zukünftig die Kriterien so ändern, dass nicht fossile Technologien wie Lastensteuerung und Energiespeicherung auch in Betracht gezogen werden. Allerdings sollen die Grenzwerte für CO₂-Emissionen nicht geändert werden, das heißt, Gasanlagen können weiterhin als Kapazitätsmechanismen dienen und staatliche Förderungen erhalten.
  • Voraussichtlich wird für Differenzverträge Atomenergie mit Erneuerbaren gleichgestellt. Für Laufzeitverlängerungen von existierenden Atomkraftanlagen sollen voraussichtlich die gleichen Förderprogramme (zweiseitige Differenzverträge) gelten wie für Erneuerbare.

 

Wie geht es jetzt weiter?

  • Derzeit liegt es in der Verantwortung des Europaparlaments und des Rates, zu entscheiden, ob sie die Reform annehmen und welche Änderungen noch vorgenommen werden müssen. Im Parlament wird für die Grünen Michael Bloss das die Strommarktreform verhandeln.
  • Am 23. Mai werden die Schattenberichterstatter*innen ihre Änderungsanträge zum Entwurf vom Berichterstatter Casares einreichen.
  • Am 19. Juli soll der Bericht im Industrieausschuss (ITRE) angenommen werden. Auch die Mitgliedsstaaten wollen sich vor der Sommerpause auf ihre Verhandlungsposition einigen.
  • Nach der Sommerpause sollen dann die Verhandlungen zwischen Parlament und Mitgliedsstaaten beginnen, denn in der Plenarsitzung im September ist nur eine Verkündung des Berichts aus dem Industrieausschuss vorgesehen und keine Abstimmung über weitere Änderungen.