Hintergrund
Am 2. Februar hat die EU-Kommission ihren Vorschlag für den zweiten delegierten Rechtsakt vorgelegt. Enthalten im Vorschlag sind unter anderem die Klassifizierung von Atomkraft und Erdgas als “nachhaltig”.
Wie geht es jetzt weiter?
- Die Taxonomie ist am 11. März offiziell dem Europaparlament übermittelt worden. Jetzt hat das EU Parlament die Möglichkeit bis zum 11. Juli die Möglichkeit es abzulehnen. Es gibt auch die Möglichkeit diese Frist um 2 Monate zu verlängern.
- Jetzt geht es in den zuständigen Ausschüsse. Im EU-Parlament ist das der Wirtschafts- und Finanzausschuss zusammen mit dem Umweltausschuss.
- Bis Ende des Monats (Am 30. März 2022) können die Abgeordneten des Europäischen Parlaments mitteilen, ob sie beabsichtigen, einen Einwand gegen den delegierten Rechtsakt zu formulieren. Die Greens/EFA werden zusammen mit anderen Fraktionen dieser Möglichkeit nachkommen und Einspruch einlegen.
- Nach einer ersten Debatte und Abstimmung in den beiden zuständigen Ausschüssen, gibt es die finale Abstimmung im Plenum.
- ENVI & ECON-Abstimmung wird voraussichtlich vom 14. bis 21. Juni. sein.
- Die finale Abstimmung im Plenum ist dann in der ersten Juliwoche.
- Für eine Ablehnung bedarf es 353 Stimmen im Plenum.
- Da im Rat absehbar keine Mehrheit für eine Ablehnung der Taxonomie zu erwarten ist, ist es möglich, dass hier keine Abstimmung darüber aufgesetzt wird.
Wie hoch stehen die Chancen, dass dieser Rechtsakt im EU-Parlament durchkommt?
- Allein im EU-Parlament gibt es die Möglichkeit, den Vorschlag noch abzuwehren.
- Dafür braucht es eine absolute Mehrheit mit 353 Stimmen.
- Nimmt man die Anzahl der Unterschriften bei den etlichen Briefen, ergibt sich mittlerweile ein Stimmungsbild von ca. 250 Abgeordnete, ausgehend von S&D, Grüne und Linke und einigen Konservativen. Es fehlen also rund 100 Abgeordnete.
- Die EPP mit 177 Abgeordneten droht sich aktuell zu spalten.
- In der Renew-Fraktion wird es einzelne Abgeordnete geben, die gegen die Taxonomie stimmen werden. Die Mehrheit der Fraktion wir sich für die Taxonomie aussprechen, um Macron nicht zu attackieren.
Was ist die EU-Taxonomie?
Die Taxonomie ist eine EU-Verordnung, mit der eine Auflistung ökologisch nachhaltiger Wirtschaftstätigkeiten eingeführt wird - also eine Art “Öko-Siegel” im Finanzbereich. Ziel ist es, damit den Grad der ökologischen Nachhaltigkeit einer Investition ermitteln zu können und mittelfristig insbesondere private Gelder verstärkt in “ökologisch nachhaltige” Tätigkeiten zu lenken. Die Verhandlungen dazu zogen sich ab 2018 fast zwei Jahre und wurden von den Grünen im EU-Parlament unter Bas Eickhout geführt. Heraus kamen vier Bedingungen:
- Die Tätigkeit muss “wesentlich” dazu beitragen, eines der sechs Umweltziele (Klimaschutz, Klimaanpassung, Kreislaufwirtschaft, Schutz und Wiederherstellung und biologische Vielfalt) einzuhalten.
- Zudem darf keines dieser Ziele beeinträchtigt werden (No Significant Harm).
- Technisch muss geklärt sein, wie sie eines der sechs Ziele einhält.
- Für Arbeitnehmer*innen gilt der “Mindestschutz”.
Knackpunkte aber waren die Details der Kriterien und die wurden den delegierten Rechtsakten überlassen - also “Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften“.
Ein erster Rechtsakt zu nachhaltigen Maßnahmen zur Anpassung an die Klimakrise und zur Eindämmung der Folgen kam am 21. April 2021. Er beinhaltete unter anderem einen klaren Schwellenwert von 100 gCO2e/kWh für die Erzeugung von Strom und Wärme/Kälte - unabhängig von der Technologie! Der erste delegierte Rechtsakt schloss die Energieerzeugung aus Kernenergie und fossilem Gas aus, verpflichtete sich aber, in einem ergänzenden delegierten Rechtsakt auf diese beiden Tätigkeiten zurückzukommen. Nach dem Ende des Prüfungszeitraums erhoben weder das Parlament noch der Rat Einwände gegen diesen ersten delegierten Rechtsakt. Er wurde am 9. Dezember 2021 im Amtsblatt veröffentlicht und wird seit dem 1. Januar 2022 vollständig angewendet.
Der zweite Rechtsakt folgte dann kurz vor Mitternacht am 31. Dezember 2021 in einem ersten Entwurf. Dieser Entwurf ging um Atomkraft und Erdgas, wurde aber nur an die Expert*innen-Gruppe der Mitgliedsländer und den Nachhaltigkeitsrat geschickt, nicht aber an das EU-Parlament.
In drei Briefen lief das EU-Parlament Sturm gegen diesen Vorschlag und das Verfahren:
- Brief 1
- “Concerns about the Commission procedure for the adoption of the draft Complementary Delegated Act covering certain additional energy activities pertaining to nuclear energy and gas”
- Von der Vorsitzenden des Wirtschafts- und Finanzausschusses (ITRE & ECON), sowie dem Vorsitzenden des Umweltausschusses.
- Brief 2
- Von der Sozialdemokratischen Fraktion mit einer ablehnenden Haltung begründet durch die Atomkraft.
- Brief 3
- European citizens and consumers deserve a proper consultation -Stop the Taxonomy Deal
- Von Michael Bloss initiiert.
Was steht im Vorschlag der EU-Kommission?
Atomkraft
- Für die Atomkraft werden keine strengen Anforderungen gestellt.
- Als “grün” sollen von nun an gelten:
- Forschung, Entwicklung, Demonstration und Einsatz innovativer Nukleartechnologien sind mit "minimalen" Abfällen aus dem Brennstoffkreislauf erlaubt (es werden jedoch keine spezifischen Schwellenwerte dafür festgelegt, was als "minimale" Abfälle gelten soll);
- Bau und Betrieb neuer Kernkraftwerke, für die die Genehmigung bis 2045 erteilt wurde, für die Erzeugung von Strom oder Wärme, einschließlich der Wasserstofferzeugung, unter Verwendung der "besten verfügbaren Technologien" ("beste verfügbare Technologien" sind so zu verstehen, dass sie den Anforderungen der Richtlinie 2009/71/Euratom des Rates und den neuesten technischen Parametern der Internationalen Atomenergie-Organisation entsprechen - also eigentlich mehr "business as usual");
- Verlängerung der Laufzeit bestehender Kernkraftwerke, die vor 2040 genehmigt wird.
- Mitgliedsländer müssen erst 2050 einen Plan für die Endlagerung gewährleisten.
Erdgas
- Der Vorschlag der Kommission wurde im Vergleich zur Version von Anfang des Jahres abgeschwächt. Dennoch gibt es viel stärkere Kriterien an Gaskraftwerke im Vergleich zur Atomkraft.
- Folgendes soll als “grün” gelten:
- Bau oder Betrieb von fossilen Gaskraftwerken, sofern sie den Schwellenwert von <100 gCO2e/kWh für die Energieerzeugung einhalten, es sei denn, die Baugenehmigung wird bis zum 31. Dezember 2030 erteilt und in diesem Fall können die folgenden Kriterien gelten:
- THG-Emissionen überschreiten nicht den Schwellenwert von 270 gCO2e/kWh oder die THG-Emissionen im Durchschnitt von 20 Jahren Laufzeit überschreiten nicht den Schwellenwert von 550 kgCO2e/kWh pro Jahr;
- die gleiche Kapazität an erzeugter Energie kann noch nicht effizient durch erneuerbare Energien erzeugt werden;
- die Anlage ersetzt eine bestehende Stromerzeugungsanlage mit hohen Emissionen, die feste oder flüssige fossile Brennstoffe verwendet (z. B. Kohle, Öl oder Gas >270 gCO2ekWh);
- Kraftwerke müssen bis zum 31. Dezember 2035 vollständig auf erneuerbare und kohlenstoffarme Gase umzustellen – Die vorherigen *Zielmarken aus dem Leak vom 31.12.2021* für die Jahre 2025 *und* 2030 sind entfallen;
- die Tätigkeit findet in einem Mitgliedstaat statt, der sich zum Ausstieg aus der Kohleverstromung verpflichtet hat und dies in seinem integrierten nationalen Energie- und Klimaplan (NECP) oder in einem anderen Instrument mitgeteilt hat;
- Emissionen, wie z. B. Methanleckagen, werden überwacht und die Leckagen werden beseitigt.
- Ähnliche Daten gelten für Wärmekopplungsanlagen mit Erdgas oder Fernwärme- und Fernkältesystems.
Wieso ist der Vorgang der Kommission so fragwürdig?
- Die Agenda für bessere Rechtsetzung soll “eine faktengestützte und transparente europäische Rechtsetzung unter Mitsprache der potenziell Betroffenen” garantieren. Das EU-Parlament wurde im Vorfeld dessen aber nicht befragt, nur die Expert*innengruppe der Mitgliedsländer.
Stakeholders must be able to give feedback on:
- Draft delegated acts and implementing acts of general application and draft measures following the regulatory procedure with scrutiny (4 weeks). There are limited exceptions to outlined in the Toolbox such as the need for urgent action or where the feedback would bring no added value.
- Überschreitet dieser Rechtsakt die Kompetenz? Laut dem Rechtsexperten Götz Reichert und seinem Gutachten, ja. Die EU-Kommission sei nicht berechtigt, über diese Einstufung von Atomkraft oder Erdgas in einem delegierten Rechtsakt zu entscheiden. Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbietet die Delegation der Aufgabe an die Kommission durch das Europäische Parlament und den Europäischen Rat, das Gremium der nationalen Regierungen. Sie sei nur bei „unwesentlichen“ Fragen erlaubt, bei „wesentlichen Aspekten“ hingegen „ausgeschlossen“.
- In einem Schreiben an die Kommission kritisieren Bas Eickhout und Sirpa Pietikäinen die Kommission und den Vorgang. Sie nehmen Stellung zu den in den inhaltlichen und rechtlichen Problemen. Kernaussage: Ein delegierter Rechtsakt muss den Basisrechtsakt vollständig einhalten. Dies ist nicht der Fall.
- Fast schon als Fun Fact zu betrachten: Selbst der Green Bond in Polen (!) nimmt Atomkraft und Erdgas nicht mit auf.
- Das Gutachten des von der EU-Kommission eingesetzten Expert*innen-Beirats zu nachhaltige Finanzen lehnt den bisherigen Vorschlag komplett ab. Das Gutachten gibt es hier.
- Es droht, dass auch Steuergelder, die für Investitionen in nachhaltige Transformation reserviert sind, in Gas und Atomkraft landen können. Bei den europäischen Green Bonds droht so ein Szenario. Auch bei der Debatte um die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (Schuldenregeln) gibt es Stimmen, die Investitionen in die grüne Transformation aus den Schuldenregeln ausnehmen wollen. Steuergeld in Gas und Atomkraft würde also nicht als “Schulden” gelten.