Strommarktreform: Kommission winkt mit Geschenken für Atomindustrie

Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen und Verhandlungsführer für die Grünen im EU-Parlament zum Gesetzesvorschlag der EU-Kommission zur Reform des EU-Strommarkts:

Dieser Vorschlag ist ein Geschenk an die Atomindustrie. Die Kommission will die Atomenergie den Erneuerbaren als Kuckucksei ins Nest legen. Die Atomindustrie bekommt massive Förderversprechen, obwohl sie nicht vereinbar ist mit einem zukünftigen, flexiblen Stromsystem, sondern nur aus staatlicher Hand überlegen kann. Das ist Umverteilung von unten nach oben - aus den Taschen der Menschen in die Koffer der Atomkonzerne.

Glücklicherweise hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die hohen Stromrechnungen des vergangenen Jahres nicht durch ein Marktversagen verursacht wurden, sondern durch die Abhängigkeit von fossilem Gas und den damit einhergehenden extrem hohen Gaspreisen. Diese Einsicht zeigt, wie wichtig es ist, alternative Energiequellen zu erschließen und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Deswegen, die Fossilen dürfen keinen Rettungsring bekommen! Das gilt auch für Atomenergie.

Wir Grünen fordern mehr soziale Gerechtigkeit und die Möglichkeit für einkommensschwache Haushalte, vergünstigte Tarife für Stromrechnungen zu erhalten. Gerade wird es den Mitgliedstaaten freigestellt, allen Bürger*innen die Strompreise zu vergünstigen. Wir aber wollen eine gezielte Unterstützung für diejenigen, die es am meisten brauchen, um sozialer Ungerechtigkeit entgegenzuwirken.

Wir haben bereits einen grünen Erfolg mit dem Verbot von Stromsperren erzielt und werden uns weiterhin für den Verbraucherschutz einsetzen. Menschen haben das Recht auf Energie, faire Verträge und die Freiheit, ihre Energie selbst zu produzieren und zu teilen.

Jetzt müssen wir uns entscheiden: Legen wir die Macht für den Klimaschutz in die Hände von Bürger*innen, die ihre eigene Energie produzieren und speichern können, oder geben wir sie in die Hände der fossilen Konzerne? Ich sage: Es ist Zeit für eine Energiewende von unten. Power to the people!

Hintergrund vom 14. März 2023

Am 14. März 2023 stellt die Kommission ihren lang erwarteten Vorschlag zur Reform des europäischen Strommarktes vor. Nachdem 2023 verschiedene Notfallmaßnahmen beschlossen wurden, um die ungewöhnlich hohen Energiepreise abzufedern, ist dies nun eine ordentliche und unbefristete Reform des Strommarktes, mit Beteiligung des Parlaments.

Wie sollen exzessive Preissteigerungen in Zukunft vermieden werden?

  • Keine Grundsatz-Reform des Marktes.
    Die Grundprinzipien des Strommarktes bleiben von dem Reformvorschlag unangetastet. Weiterhin sollen das sogenannte “merit order principle" und das „marginal pricing principle“ auf dem Spotmarkt die Preise bestimmen. Das heißt, die Technologien, die am billigsten Strom produzieren (die Erneuerbaren), behalten ihren Wettbewerbsvorteil und dürfen weiterhin als Erstes einspeisen. Der Großhandelspreis am Markt wird auch in Zukunft von der teuersten Technologie (zuletzt Erdgas) bestimmt, die benötigt wird, die bestehende Nachfrage zu befriedigen.
  • Preisstabilisierung durch mehr Langzeitverträge.
    Die Reform zielt darauf ab, Preisschwankungen vor allem durch zusätzliche Anreize für Langzeitverträge vorzubeugen. Erstens sollen Terminmärkte (die über ein Jahr hinausgehen) gestärkt werden, zweitens sollen staatliche Direktförderungen
    in Form von zweiseitigen Differenz-Verträgen zukünftig die Norm für staatliche Förderungen sein, und drittens sollen Stromabnahme-Verträge (PPAs) verstärkt genutzt werden.
    • Terminmärkte sollen durch die Einrichtung von virtuellen Handelspunkten gestärkt werden. Diese sollen die Liquidität im Terminmarkt verbessern, indem sie die derzeitige Marktfragmentierung reduzieren. Eine neu ins Leben gerufene, einheitliche Zuweisungsplattform (single allocation plattform) soll dafür zuständig sein, die Langzeit-Übertragungskapazität zu versteigern.
    • Staatliche Förderung in Form von zweiseitigen Differenzverträgen wird zum einzigen Direkt-Fördermittel für neue Anlagen. Zweiseitige Differenzverträge sollen auch für Laufzeitverlängerungen von existierenden Anlagen (also Atommeilern) genutzt werden können. Feed-in-Tarife sollen voraussichtlich weiterhin erlaubt bleiben.
    • Staatliche oder europäische Kreditgarantien sollen Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs) auch für kleinere Verbraucher*innen (KMUs und eventuelle sogar Bürger*innen) zugänglich machen.

Verbessert die Reform den Verbraucher*innenschutz?

  • Ein neues Verbot von Stromsperren für schutzbedürftige Gruppen soll eingeführt werden. Das bedeutet, schutzbedürftigen Gruppe darf der Zugang zu Strom und Heizung selbst dann nicht verwehrt werden, wenn sie ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können.
  • Ein neues Recht auf Energieteilen soll eingeführt werden.
    • Das soll vor allem privaten (Klein)Produzent*innen erlauben, erneuerbare Energie von bis zu 100 MW untereinander zu teilen.
  • Ein neues Recht auf Fixpreis-Verträge wird neben dem Recht zu flexiblen Preis-Verträgen vorgeschlagen.
  • Verbot von einseitigen Preiserhöhungen befristeten Festpreisvertägen
  • Ein neues Recht auf Unterzähler für Strom, die es Verbraucher*innen ermöglichen für einen Teil ihres Stromverbrauchs von flexible Preise zu profitieren (zum Beispiel für e-Autos oder Wärmepumpen), und gleichzeitig ein Teil ihres Verbrauchs mit einem Festpreis gedeckt ist.
  • Jeder Mitgliedstaat muss einen „Lieferanten der letzten Instanz“ (supplier of last resort) - zumindest - für Haushalte benennen (dies ist bereits in vielen Mitgliedstaaten der Fall, war aber bisher nicht auf EU-Ebene angeordnet).


Wie soll in Zukunft mit Preiskrisen umgegangen werden?

Es soll einen neuen Rahmen für Energiepreis-Krisen geben. In Krisenzeiten soll es für Mitgliedstaaten möglich sein, in die Preisgestaltung einzugreifen. Allerdings muss der Eingriff auf 80 % des Verbrauchs der letzten 5 Jahre der jeweiligen Verbraucher*innen begrenzt sein, um Anreize zum Stromsparen beizubehalten.

Wie unterstützt die Reform die Dekarbonisierung des Strommarktes?

  • Netzbetreiber*innen müssen Offshore-Windanlagen Zugang zum Netz garantieren. Falls Netzbetreiber*innen eine volle Abnahme des Stroms der Offshore-Anlagen nicht sichern können, müssen Kompensationszahlungen an die Offshore-Windanlagen gezahlt werden.
  • Kurzzeit-Märkte sollen näher zur Realtime agieren, der untertägige Handel soll ab 2028 nicht früher als 30 Minuten vor Realtime schließen. Das gibt Erneuerbaren die Möglichkeit, Peak-Produktion besser am Markt zu verkaufen.
  • Mitgliedstaaten sollen zukünftig bei Auktionen für Erneuerbare Umweltverträglichkeitskriterien, Innovationspotenzial, Systemintegration und Versorgungssicherheit mit in Betracht ziehen.
  • Ein neuer rechtlicher Rahmen für Speicherung und Lastensteuerung (demand response flexibility) soll entstehen. In einem Stromsystem, welches mehr und mehr auf Erneuerbaren basiert, sind effiziente Speicherung und eine volle Nutzung der Lastensteuerung wichtige Komponenten.
    • Netztarife sollen in Zukunft so festgelegt werden, dass Investitions- und Betriebsausgaben der Netzbetreiber in Betracht gezogen werden. Das soll zu mehr Effizienz im System führen.
    • Um den kleineren Erneuerbaren-Produzent*innen, Speichern und Lastensteuerungs-Angebote (demand response flexibility) Marktzugang zu vereinfachen, soll vorgeschlagen werden, das Gebotsminimum von 500 KW auf 100 KW zu senken.
    • Eine neue Bedarfsanalyse für Lastensteuerung im System muss von den Mitgliedstaaten mit Hinblick auf die Dekarbonisierung des Stromsystems ausgearbeitet werden. Allerdings soll diese Analyse auf Daten der Netzbetreiber basieren. Die Analyse soll Basis sein für ein neues unverbindliches Ziel für Lastensteuerung, das die Mitgliedstaaten von nun an, in ihre Klima- und Energiepläne aufnehmen sollen.
    • Lastensteuerung soll auch durch neu eingeführte Spitzenlastmanagement-Produkte besser zur Systemeffizienz beitragen.

Welchen Status haben Fossile und Atomenergie unter der Reform?

  • Für Förderungen von Technologien als Kapazitätsmechanismen sollen Mitgliedstaaten zukünftig die Kriterien so ändern, dass nicht fossile Technologien wie Lastensteuerung und Energiespeicherung auch in Betracht gezogen werden. Allerdings sollen die Grenzwerte für CO₂-Emissionen nicht geändert werden, das heißt, Gasanlagen können weiterhin als Kapazitätsmechanismen dienen und staatliche Förderungen erhalten.
  • Voraussichtlich wird für Differenzverträge Atomenergie mit Erneuerbaren gleichgestellt. Für Laufzeitverlängerungen von existierenden Atomkraftanlagen sollen voraussichtlich die gleichen Förderprogramme (zweiseitige Differenzverträge) gelten wie für Erneuerbare.

 

Grüne Forderungen

  • Wir brauchen ein Strommarkt, der Bürger*innen dafür belohnt, aktive Mitspieler im Markt zu sein, indem sie leicht selber Strom produzieren, ihn mit anderen Bürger*innen teilen können und ihre Nachfrage dem aktuellen Strompreis anpassen können. Gleichzeitig müssen wir Energiearmut effizienter bekämpfen und vulnerable Gruppen besser schützen. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist der Vorschlag der Kommission, Stromsperren für vulnerable Verbraucherinnen zu verbieten.
  • Es ist an der Zeit, jetzt die Weichen für einen Strommarkt zu stellen, der zu 100 % auf erneuerbaren Energien basiert. Wir müssen klare Anreize für erneuerbare Energien und nicht-fossile Energiespeicher schaffen und endlich Fossil- und Atomkraft aus dem Markt drängen, da sie teuer sind und unsere Netze verstopfen. Der Vorschlag der Kommission geht in die richtige Richtung, aber er geht nicht weit genug.
    • Die Kommission will Atomenergie die gleichen Rahmenbedingungen wie Erneuerbare geben. Und das, obwohl Atomenergie teuer und gefährlich ist und wir noch immer kein einziges sicheres Langzeitlager in der gesamten EU für Atommüll haben. Von der Abhängigkeit von russischem Uran sowie dem schädlichen Uranabbau gar nicht zu sprechen.
    • Fossile Energien können weiterhin Förderung erhalten. Zwar gibt die Kommission nicht-fossilen Lösungen wie Energiespeicherung und Lastensteuerung mehr Raum, aber sie schlägt nicht vor, die Spielregeln für Kapazitätsmechanismen grundsätzlich zu überarbeiten und die Grenzwerte für den CO₂ Ausstoß drastisch zu verringern. Das heißt: Gaskraftwerke können auch in Zukunft staatlich gefördert werden.

 

Wie geht es jetzt weiter?

Derzeit liegt es in der Verantwortung des Europaparlaments und des Rates, zu entscheiden, ob sie die Reform annehmen und welche Änderungen noch vorgenommen werden müssen. Im Parlament wird für die Grünen Michael Bloss das die Strommarktreform verhandeln. Noch unklar ist, ob ein Schnellverfahren oder ein Regelverfahren angewandt wird.

Die Geschwindigkeit der Verhandlungsprozesse hängt von den Verhandlungen ab, aber sowohl die Mitgliedstaaten im Rat als auch das EU-Parlament sind bestrebt, sich zu beeilen und die Verhandlungen bis spätestens Ende des Jahres abzuschließen.