Eine Abschwächung des europäischen Klimaziels durch die Hintertür

Michael Bloss, klima- und industriepolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament kommentiert den Stand des europäischen Klimaziels:

Die desaströse Auswirkung von Artikel 6-Zertifikaten für die Wirtschaft wurde noch überhaupt nicht verstanden. Es ist kein einfacher Weg für den Klimaschutz, sondern es zerstört zum Beispiel den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft und andere Geschäftsmodelle, die ohne fossile Kohle, Öl und Gas auskommen wollen. In der Vergangenheit hat dieser Ansatz immer zu großen Rückschritten geführt. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen.

Zum Hintergrund

Das Klimaziel für 2040 bildet den Fixpunkt für die europäische Klimapolitik der nächsten Jahre: Auf Basis dieser Festlegung werden die verabschiedeten Klimaschutzgesetze daraufhin überprüft werden müssen, ob sie mit dem 2040er-Ziel kompatibel sind oder die Mitgliedstaaten und die EU noch nachsteuern müssen. Damit wird das Klimaziel für 2040 mittelbar auch entscheidend für Investitionsentscheidungen von Unternehmen, die europäische Wettbewerbsfähigkeit, und die europäische Unabhängigkeit von fossilen Energien.

Warum das Klimaziel bei 90% liegen muss - und internationale Emissionsminderung nur zusätzlich sein kann:

Der wissenschaftliche Klimarat der EU hat in einem umfassenden Gutachten dargelegt, dass eine Emissionsreduktion um 90% gegenüber 1990 bis 2040 unter Einhaltung der technologischen und nachhaltigen Grenzen möglich wäre. Mehr noch, um einen annähernd fairen Beitrag der EU zum Pariser Klimaabkommen zu leisten, sei ein 90%-Ziel nicht nur geboten; es müsse auch mit Maßnahmen zur Unterstützung der Emissionsreduktion in anderen Staaten einhergehen. Auf Basis dieses Gutachtens veröffentlichte die EU-Kommission 2024 eine umfangreiche Folgenabschätzung, in der sie sich zu einem 90%-Ziel für 2040 bekannte. Einen Gesetzesvorschlag zur Implementierung des 2040er-Ziels hat die Kommission jedoch, obwohl mehrfach angekündigt, bislang nicht vorgelegt.

Die Kommission erwägt eine Zielaufweichung mittels internationaler Gutschriften:

Hintergrund für die Verzögerung des Gesetzesvorschlags ist die zuletzt bröckelnde Unterstützung für das 90%-Ziel seitens der Mitgliedstaaten. Was wiederum die EU-Kommission im April dazu verleitete, damit zu beginnen, “Flexibilitäten” mit den Mitgliedstaaten auszuloten. Eine dieser “Flexibilitäten” ist die Anrechnung internationaler CO2-Gutschriften auf das europäische Klimaziel. Auch bekannt als Art. 6-Credits, benannt nach Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens, der es Staaten ermöglicht, ihre Klimaziele mittels “freiwilliger Kooperation” zu erfüllen. Die Idee dahinter ist nicht neu und tauchte bereits als “Clean Development Mechanism”(CDM) im Rahmen des Kyoto Protokolls auf. Aufwind hat diese Diskussion dadurch bekommen, dass bei der letzten Klimakonferenz in Baku nach jahrelangen Verhandlungen Regeln zur Konkretisierung und Operationalisierung von Artikel 6 als Nachfolgemechanismus des CDM beschlossen wurden.


Die neue Bundesregierung unterstützt die Aufweichung des 2040er-Ziels:

Auch im gerade verabschiedeten Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD findet sich die Passage, dass “hochqualifizierte, zertifizierte und permanente Projekte (maximal drei Prozentpunkte des 2040- Zwischenziels) in außereuropäischen Partnerländern” auf das 2040er-Klimaziel anrechenbar sein sollen. Diese Positionierung ist auch deshalb verwunderlich, weil ein europäisches 90%-Ziel etwa um fünf Prozentpunkte schwächer als das deutsche Klimaschutzgesetz-Ziel von 88%. Denn bei letzterem werden, anders als beim EU-Ziel, die natürlichen und technischen Senken nicht angerechnet.

Die mit Art. 6 einhergehenden Risiken sind enorm:

Noch ist unklar, wie genau diese internationalen Zertifikate in das Klimaziel eingebaut werden könnten - in jedem Fall birgt eine Integration enorme Risiken und würde die Klimaschutzarchitektur und die Diskussion grundlegend verändern.

  • Risiko für den Wasserstoffhochlauf und möglicher fossiler “Lock-in”: Werden die internationalen Gutschriften auf die Einhaltung der Klimaziele angerechnet, wird sich der ohnehin schleppende Hochlauf von klimaneutralen Technologien wie grünem Wasserstoff weiter verzögern. In diesem Fall entstehen zum Beispiel Anreize, ein Kraftwerk nicht von fossilem Gas auf grünen Wasserstoff umzustellen. Denn eine solche Umstellung ist mit CO2-Vermeidungskosten von etwa 200 Euro/t CO2 im Jahr 2035 verbunden. Unternehmen werden versucht sein, weiterhin auf fossiles Gas zu setzen und diese Emissionen durch günstigere Art. 6-Gutschriften zu kompensieren. Dies führt dazu, dass sich mangels Nachfrage nach grünem Wasserstoff das Problem verschärft, dass auch kein ausreichendes Angebot dafür entsteht. Ähnliches gilt für den Einsatz noch teurer Technologien wie synthetische Kraftstoffe oder CCS, die in eng umgrenzten Bereichen (Flugverkehr bzw. unvermeidbare Restemissionen in der Industrie) gebraucht werden.
  • Risiko für den Investitionsstandort Deutschland: Zugleich würde Kapital in fragwürdige Kompensationsprojekte im Ausland statt in den Umbau der Industrie vor Ort (z.B. Stahlkraftwerke und Elektromobilität) fließen. Europa würde weiter an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verlieren und letztlich den Anspruch aufgeben, der erste klimaneutrale Kontinent zu werden.

  • Die lange Geschichte von Skandalen mit internationalen Gutschriften: In einer systematischen Auswertung von über 60 empirischen Studien kam das Öko-Institut zu dem Ergebnis, dass die tatsächlichen Emissionsminderungen aus den untersuchten Klimaschutzprojekten im Durchschnitt rund sechsmal geringer waren als angegeben. Die Integration von 1,6 Milliarden internationalen Gutschriften in den ETS führte in den 2010er-Jahren zu einem Kohlenstoffpreis-Crash, der inländische Klimaschutzmaßnahmen ausbremste und die ETS-Einnahmen als Quelle für Transformationsunterstützung erheblich minderte. Im Fall der deutschen Treibhausgasminderungsquote wurden Emissionen in Höhe von 7,5 Mio. t CO2 fälschlicherweise als vermieden deklariert, was zu einem Schaden von 750 Mio. Euro führte.

  • Grundlegende Mängel innerhalb des Art. 6-Abkommens:  Es wird argumentiert, dass Skandale durch "hohe Qualitätsstandards" vermieden werden könnten. Dieses Argument ist jedoch genauso alt wie die Historie der Skandale mit internationalen Gutschriften - verhindern konnte es sie nicht.
    Und die Abkommen im Rahmen von Art. 6 sind in diesem Sinne auch nicht wasserfest: Art. 6.2 ermöglicht Staaten, bilaterale Abkommen über den Kauf von Gutschriften abzuschließen, gibt jedoch keine Qualitäts- und nicht einmal ausreichende Transparenzstandards dafür vor. Die Schweiz hat dies bereits in mehreren Abkommen, zum Beispiel zur Ko-Finanzierung elektrischer Busse in Thailand getan - und sie steckt inzwischen bis über beide Ohren in Problemen wie mangelnder Zusätzlichkeit der Emissionsminderungen, Intransparenz und Arbeitsrechtsverletzungen. Außerdem erlaubt Art. 6.2, dauerhafte Emissionen durch Projekte zur nicht dauerhaften CO2-Speicherung (z.B. Aufforstung von Wäldern) zu kompensieren.
    Letzteres gilt auch für Art. 6.4. Darüber hinaus ermöglicht Art. 6.4 die Übertragung von bis zu 900 Millionen CDM-Zertifikaten, die auf veralteten und fehlerhaften Methoden beruhen. Eine Studie von Carbon Market Watch, die das erste Projekt untersuchte, zeigt, dass dessen Minderungseffekt um das 27-fache überschätzt wurde.

  • Risiko einer globalen Abwärtsspirale: Durch die Einbeziehung internationaler Gutschriften würde die EU anderen Ländern signalisieren, dass sie von ihrem angestrebten Ziel für 2040 abrückt. In der entscheidenden Zeit nach dem Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen birgt dies das Risiko, eine internationale Abwärtsspirale in Gang zu setzen. Es könnte für andere Länder ein Anreiz entstehen, in Zukunft niedrigere nationale Ziele festzulegen und dabei die Möglichkeit zu berücksichtigen, Gutschriften an die EU zu verkaufen.