EU-Strommarkt: Ausschuss beschließt Parlamentsposition

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2023-07-12 EMD CA1 EPP, S&D, Renew & Greens.docx

Michael Bloss, Verhandlungsführer der Grünen zum Strommarktdesign, kommentiert das Abstimmungsergebnis im Industrieausschuss zur EU-Strommarktreform:

Wir haben einen großen grünen Erfolg für das Klima, den Ausbau der Erneuerbaren und das Portmonee der Bürger*innen in der ganzen Europäischen Union erzielt. Unser neues Förderschema für Erneuerbare ist eine kleine Revolution! Endlich kann die EU selbst aktiv werden und Erneuerbare ausschreiben - was bisher nur den Mitgliedstaaten vorbehalten war. Damit schaffen wir die Voraussetzung für 45 % Erneuerbare im Energiemix bis 2030.

Mit dem neuen Recht auf „Energy Sharing“ geben wir den Menschen die Macht zur Energieproduktion selbst in die Hand. Mit der Solaranlagen am Balkon werden die Bürger*innen in der EU zu Pionieren der Energiewende. Ohne Bürokratie und kinderleicht installiert, können wir bald unseren eigenen Strom erzeugen und per App an unsere Familie und Nachbarinnen schicken.

So können wir die Stromrechnung um 20 % senken. Und damit alle Haushalte davon profitieren können, fordern wir ein europäisches Balkonsolar-Programm, das den von Energiearmut betroffenen Menschen kostenlose Solaranlagen für den Balkon bereitstellt.

Mit der Strommarktreform geben wir ein neues soziales Versprechen: Niemand darf im Dunkeln sitzen. Stromsperren sollen verboten werden.

Wir haben den Strommarkt befreit und das Subventionsparadies für Atomkraft und Kohle beendet. Wir haben dafür gesorgt, dass sie sich dem fairen Wettbewerb stellen müssen und nicht mehr von Sonderregeln profitieren. Jetzt müssen sie sich mit den günstigen Erneuerbaren messen - und werden verlieren.

Wir sind bereit, und können direkt mit dem Rat verhandeln. Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass ihre Stromrechnungen sinken. Wir als Parlament sind schnell, entscheidungsfähig und entschlossener als der Rat, der immer noch rumeiert. Der Rat muss jetzt seiner Verantwortung gerecht werden und seine Position klar machen.

Die Menschen haben lange genug gewartet. Wir sind ihnen eine faire Energiepolitik schuldig.

Michael Bloss, negotiator for Greens/EFA for the reform of the EU electricity market design (EMD), comments on the result of the vote in today's ITRE Committee:

We have won a great green victory for the climate, the expansion of renewables and the wallets of citizens across the European Union.

Our new funding scheme for renewables is a game-changer! Finally, the EU itself can take the lead and tender for renewables - something that was previously reserved for the member states. This way, we lay the foundation for 45% renewables in the energy mix by 2030.

With the new right to “energy sharing”, we enable people to produce their own energy. With balcony-solar-systems, the citizens of the EU become pioneers of the energy transition. They can install them without bureaucracy and hassle, and soon generate their own electricity and share it with their families and neighbours via app. This way we can cut the electricity bill by 20%. And to ensure that all households can benefit from this, we call for a European balcony solar program that provides free solar systems for those who struggle with energy poverty.

With the electricity market reform, we make a new social promise: no one should be left in the dark. Power cuts should be banned. We have freed the electricity market and shut down the subsidy paradise for nuclear power and coal.

We have made them face fair competition and stop enjoying special privileges. Now they have to compete with cheap renewables - and they will lose.

We are ready and we can negotiate directly with the Council. We want citizens to see their electricity bills go down. We in Parliament are quick, decisive and more determined than the Council, which is still dragging its feet. The Council must now step up and make its position clear. People have waited long enough. We owe them a fair energy policy.

Hintergrund vom 19. Juli 2023

Die Verhandler*innen der Fraktionen haben eine politische Einigung über das Verhandlungsmandat des EPs zur Strommarktreform erzielt. Am 19. Juli stimmte der Industrieausschuss (ITRE) über den erzielten Kompromiss ab. Damit ist das Europäische Parlament bereit für die Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten.

Nach der Energiekrise sollte der europäische Strommarkt ein Update bekommen, um den Erneuerbarenausbau zu beschleunigen und die Strompreise, insbesondere für Verbraucher*innen, dauerhaft zu senken. Nachdem 2022 die Mitgliedsstaaten bereits Krisenmaßnahmen ergriffen haben, ist dies nun die ordentliche und unbefristete Gesetzesänderung mit Beteiligung des Parlaments.

Worauf hat sich der Industrieausschuss geeinigt?

Klare Designkriterien für Differenzverträge

  • Der Kernbestandteil der Reform ist die Ausgestaltung staatlicher Förderinstrumente für Erneuerbare. Zweiseitige Differenzverträge (CfDs) haben eine Doppelfunktion:
    • Durch einen garantierten Mindestpreis sollen Erneuerbare gefördert werden, indem ihnen ein Mindesteinkommen staatlich garantiert wird. Gleichzeitig werden durch einen Maximalpreis Gewinne abgeschöpft, die dann die Mitgliedstaaten umverteilen können.
    • Folgende Technologien sollen mit Differenzverträgen gefördert werden:
      • Wind, Solar, Wasserkraft (ohne Reservoir), Geothermal und Atomenergie
  • Neben CfDs dürfen Mitgliedsstaaten auch äquivalente direkte Fördermechanismen für Erneuerbare (z.B. gleitende Einspeiseprämie mit Deckel) einsetzen, sofern die Kommission diese als Äquivalente zu CfDs genehmigt hat.
  • Mindestens die Hälfte des Volumen an CfDs müssen über öffentliche Ausschreibungen vergeben werden.
    • Dadurch können sich im Wettbewerb die günstigsten Technologien durchsetzen und Atomkraft muss mit den günstigeren Erneuerbaren konkurrieren.
      Es besteht keine Verpflichtung für Erzeuger, CfDs abzuschließen.
  • CfDs sollen neue Anlagen, sowie Repowering sowie die zusätzliche Energiekapazität bei Laufzeitverlängerung abdecken. Die vollumfängliche Überführung von Bestandsanlagen ist nicht vorgesehen.
  • Die Einnahmen aus CfDs sollen an Verbraucher*innen, denen Energiearmut droht, ausgezahlt werden und in Investitionen in die Energiewende fließen. Außerdem können die Einnahmen an energieintensive Industrieunternehmen (proportional zum Verbrauch) ausgezahlt werden, sofern diese einen Dekarbonisierungsplan verfolgen.
  • Kein Produce and Forget: Es besteht eine Ausnahme bei negativen Preisen. Energieerzeuger erhalten keinen garantierten Mindestpreis, wenn Marktpreise negativ sind, damit sie trotz CfD auf Marktsignale reagieren und ihr Verhalten anpassen.


Europäischer Erneuerbaren Booster

  • Die Mitgliedstaaten haben sich im Rahmen der Erneuerbarenrichtlinie (RED) dazu verpflichtet, 42,5 % des EU-Energieverbrauchs bis 2030 mit Erneuerbaren abzudecken. Angestrebt, aber nicht an konkrete Verpflichtungen geknüpft, ist das Ziel 45 % des EU- Energieverbrauchs bis 2030 mit Erneuerbaren sicherzustellen. Das EP-Verhandlungsteam will die Lücke von 2,5 % über ein europäisches Auktionsprogramm schließen.
    • Mit europäischen Investitionsgarantien für Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs) und europäischen Differenzverträgen (CfDs), um finanzielle Risiken beim Erneuerbarenausbau abzumildern.

Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs):

  • Markteintrittsbarrieren sollen abgebaut werden und durch Aggregation auch kleineren Marktteilnehmenden der Abschluss von PPAs ermöglicht werden.
  • Staatliche Garantien für PPAs zu Marktpreisen sollen Investitionsrisiken senken. Auch die Europäische Investitionsbank soll Garantien für PPAs vergeben. Wenn möglich, sollen die Garantien auf PPAs über Strom aus neuen Erneuerbaren-Anlagen abgeschlossen werden.


Energy Sharing: Energiewende von unten

Energy Sharing für Erneuerbare: Der EU-Rechtsrahmen für das Einspeisen und Speichern von grünem Strom durch Bürger*innen, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen kommt.

Neben einem Vertrag mit dem herkömmlichen Stromversorger können Verbraucher*innen zusätzliche Energy Sharing Abkommen abschließen und so gezielt mit anderen Personen Strom teilen. Über Energy Sharing Plattformen kann Strom und Speicherkapazität angeboten und verkauft werden.

So wird eine neue, dezentrale Stromversorgung durch Erneuerbare durch Prosumer ermöglicht - jenseits des herkömmlichen Modells, in dem Verbraucher*innen von einem großen Energieversorger Strom beziehen.

  • Stromversorger sollen nur Nettoverbrauch in Rechnung stellen, also Stromverbrauch minus eingespeiste Strommenge. Bildlich gesprochen, beim Einspeisen “läuft der Zähler rückwärts”.
  • “Plug-and-play” für Balkonsolar-Anlagen (installierte Kapazität bis zu maximal 800 Watt): d.h. keine Gebühren, Netzentgelte oder Steuern, wenn Mitgliedsstaaten das so entscheiden.
  • Beim Einspeisen größerer Strommengen (installierte Kapazität größer als 800W) fallen kostenorientierte Netzentgelte, Gebühren und Steuern an.
  • Transparente, vereinfachte Vertragsabschlüsse beim Produzieren, Speichern und Teilen von Erneuerbarem Strom.
  • Keine unnötige Bürokratie: Kleinanlagenbetreiber sind von Verpflichtungen, die für klassische Energielieferanten gelten, entbunden. (bei Anlagen bis zu 10.8 kW installierter Kapazität und bis zu 100 kW Kapazität für Mehrparteienhäuser)
  • 20% des von öffentlichen Einrichtungen produzierten Stroms soll an vulnerable Verbraucher*innen gehen.

Wer darf beim Energy Sharing mitmachen?

Alle! Es ist nicht erforderlich, selbst Strom zu produzieren oder zu speichern, um am Energie-Sharing teilzunehmen und geteilten Strom zu beziehen. Damit können alle Haushalte von günstigem, dezentral produziertem Strom aus Erneuerbaren profitieren.

Die einzige Voraussetzung ist, dass die Energieerzeugung nicht das primäre Geschäftsziel einer Unternehmung ist, damit diese Energie teilen darf.

Was macht die Energy Sharing Plattform?

Die Plattform vermittelt Stromangebote und Speichermöglichkeiten (v.a. Autobatterien) an Verbaucher*innen und kümmern sich um die Abrechnung von Zählerständen, Netzentgelten und Steuern (vor allem in Mehrparteienhäusern mit Dach-PV), die Kommunikation mit Netzbetreibern und Energieversorgern, sowie die Anmeldung von Anlagen.

Eine einzelne Anlage, die von einem Drittanbieter verwaltet werden kann, darf die maximale Kapazität von 6 MW nicht überschreiten.

Das Energy Sharing wird in der EU-Richtlinie zum Strommarkt reguliert und muss entsprechend in nationales Recht umgesetzt werden.

 

Soziale Gerechtigkeit und Verbraucher*innenschutz

  • Einseitige Preiserhöhungen in befristeten Festpreisverträgen sind verboten.
  • Verbot von Stromsperren in der EU: Menschen, die von Energiearmut bedroht oder betroffen sind, darf der Strom nicht abgestellt werden.
  • Verbraucher*innen haben die freie Wahl zwischen Fixpreisverträgen (Mindeslaufzeit ein Jahr) und Verträgen mit flexibler Preisgestaltung.
  • Verbraucher*innen haben EU-weit das Recht auf transparente Aufschlüsselung ihrer Stromkosten durch den Energieversorger
  • Verbraucher*innen haben Anspruch auf einen Unterzähler für Strom / intelligenten Stromzähler (smart meter), mit denen sie ihren Stromverbrauch an die aktuellen Preise anpassen können (zum Beispiel zum Laden von E-Autos oder Nutzen von Wärmepumpen).
    • So können sie von niedrigen Preisen profitieren und gleichzeitig einen Teil ihres Verbrauchs mit einem Festpreis absichern.

EU-Krisenmaßnahmen

  • EU-Krisenmechanismus zur Preiskontrolle. Die Kommission sieht in Krisenzeiten vor, dass Mitgliedsstaaten in die Preisgestaltung eingreifen dürfen und Energiesparmaßnahmen bei Unternehmen durchsetzen können, bis hin zur Reduzierung des Stromverbrauchs auf 70% des Vorjahres.
  • Ein Preisdeckel in Krisenzeiten (Revenue Cap) wird nicht Teil der Parlamentsposition sein.

Das Marktdesign im Detail

  • Die grundsätzlichen Marktregeln (merit order) bleiben erhalten.
  • Offshore Windkraftanlagen erhalten eine Garantie für den Anschluss an Übertragungsnetze.
    • Falls Netzbetreiber eine volle Abnahme des Stroms der Offshore-Anlagen nicht sichern können, müssen Kompensationszahlungen an die Offshore-Windanlagen gezahlt werden.
  • Kurzzeit-Märkte sollen sich der Echtzeit (realtime) annähern.
    • Das bedeutet, der Gebietszonen übergreifende untertägige Handel soll ab 2026 30 Minuten vor der Echtzeit schließen. Übertragungsnetzbetreiber können Ausnahmen beantragen, müssen aber allerspätestens 2031 den gebotszonenübergreifenden Handel bis 30 Minuten vor Echtzeit sicherstellen.
    • Das ermöglicht es den Erneuerbaren Energien, ihre Spitzenproduktion besser am Markt zu verkaufen.
  • Terminmärkte: Die Kommission wird mit einer Folgenabschätzung prüfen, ob die Einführung regionaler virtueller Handelspunkte (virtual hubs), die Liquidität auf den Terminmärkten europaweit verbessern und somit durchgeführt werden soll.
  • Peak Shaving: Nach einer Folgenabschätzung durch ACER, kann die Kommission einen Gesetzesvorschlag für die Einführung von “Peak Shaving Produkten” machen und im Falle einer Energiekrise Peak Shaving Maßnahmen einführen. In Markt für “Peak Shaving Produkte” könnten Marktteilnehmer*innen eine Vergütung erhalten, wenn sie ihren Verbrauch in Zeiten hoher Last kurzfristig reduzieren.
  • Speicherung und Lastensteuerung (demand response flexibility)
    • Anstatt neue Atom- oder Gaskraftwerke zur Verstromung einzusetzen, soll das Potenzial von Stromspeichern und flexible Anpassung der Nachfrage auf Angebotsschwankungen (demand response) durch Industrie und Haushalte genutzt und gefördert werden.


Mitgliedstaaten: Dissens bei Atom und Kohle

Die Einigung im Rat auf eine allgemeine Ausrichtung, um die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament zu beginnen, steht noch aus.

Kein Konsens besteht bei der Ausgestaltung der CfDs, insbesondere, ob Bestandsanlagen (vor allem Kernkraft) in CfDs überführt werden können und inwiefern CfD-Einnahmen an die Industrie verteilt werden können.

Letzte Diskussionen unter der schwedischen Ratspräsidentschaft scheiterten, weil eine Mehrheit der Mitgliedstaaten es ablehnte die Förderung von Kohlekraftwerken oder Gaskraftwerken, die über dem Emissionsstandard emittieren, für ein weiteres Jahr bis 2026 zu verlängern.

 

Was passiert mit Gas und Kohle im Kapazitätsmechanismus?

Der Kompromiss von EPP, S&D, Renew und Grünen/EFA, der im ITRE angenommen wurde, sieht keine Öffnung und Änderung des Kapazitätsmechanismus vor.

 

Wie geht es jetzt weiter?

Nach der Sommerpause können die Verhandlungen zwischen Parlament und Mitgliedsstaaten beginnen, denn in der Plenarsitzung im September ist nur eine Verkündung des Berichts aus dem Industrieausschuss vorgesehen und keine Abstimmung über weitere Änderungen.