EU-Strommarkt: Mitgliedsstaaten streiten um Atom und Kohle

Hintergrund vom 19. Juni 2023

Nach der Energiekrise sollte der europäische Strommarkt ein Update bekommen, um den Erneuerbarenausbau zu beschleunigen und um die Strompreise, insbesondere für Verbraucher*innen, dauerhaft zu senken. Nachdem 2022 die Mitgliedsstaaten bereits Krisenmaßnahmen ergriffen haben, ist dies nun eine ordentliche und unbefristete Gesetzesänderung mit Beteiligung des Parlaments.


Mitgliedstaaten: Dissens bei Atom und Kohle

  • Staatliche Förderung für Atomkraft?
    • Der Kernbestandteil der Reform sind EU-Vorgaben zur Ausgestaltung von direkten staatlichen Fördermaßnahmen in der Form von zweiseitigen Differenzverträge (CfDs) mit einer Doppelfunktion:
      • Energieerzeuger erhalten einen staatlich garantierten Mindestpreis beim Verkauf von Energie. Gleichzeitig schöpft der Staat über einem Maximalpreis Gewinne ab.
      • Neben Erneuerbaren soll auch Atomkraft über CfDs gefördert werden.
        • Das würde ein staatlich gesichertes Mindesteinkommen für Atomkraftwerke, laut des Ratstexts auch bei Laufzeitverlängerung von Bestandsanlagen, bedeuten.
    • Wie steht es um Atomkraft in Frankreich?
      • 2025 läuft der bisherige ARENH-Mechanismus aus, der den Übergang der quasi- monopolistisch organisierten Energieversorgung über Atomkraft (70 % des Energieverbrauchs) zu einem liberalisierten Wettbewerb mit anderen Stromproduzenten
      • Als Nachfolge der ARENH sollen nun, so der Plan Frankreichs, die Bestandsanlagen des Staatskonzerns EDF in CfDs überführt werden.
      • So könnte Frankreich, am europäischen Beihilferecht vorbei, den Bestandspark renovieren.
      • Mitgliedsstaaten, wie Spanien, wo Atomkraftwerke privat betrieben werden, können AKWs aufgrund des Bestandsschutzes nicht in CfDs überführen.
      • Letzendlich drohen Wettbewerbsverzerrungen zu Gunsten der französischen Atomkraft und die Energiewende in Frankreich wird ausgebremst.
  • Wie weiter mit der Kohle? Kapazitätsmechanismus:
    • Eigentlich wollte die EU-Kommission den politisch schwierigen Kompromiss, der 2018 gefunden wurde, nicht im Rahmen dieser Reform öffnen.
    • Damals hatte Polen noch schnell, vor in Kraft treten der neuen EU-Regeln, einen Kapazitätsmechanismus aufgelegt, der nicht dem Emissions Performance Standard von maximal 500 Gramm Kohlendioxid fossilen Ursprungs pro KWh Elektrizität unterliegt.
    • Polen soll Kohlekraftwerke nun noch drei weitere Jahre als ursprünglich vereinbart im Kapazitätsmechanimus behalten dürfen, so der Vorschlag der schwedischen Ratspräsidentschaft.


Die Grüne Position im Überblick

Wir müssen jetzt den Strommarkt für 100 % erneuerbare Energien vorbereiten und klare Anreize für erneuerbare Energien und nicht-fossile Energiespeicher setzen und endlich fossile- und Atom-Energie aus dem Markt drängen, da sie teuer sind und unsere Netze verstopfen. Der Vorschlag der Kommission geht in die richtige Richtung, aber noch nicht weit genug.

  • Europäischer Erneuerbaren Booster:
    • Die Mitgliedstaaten haben im Rahmen der Verhandlungen der Erneuerbarenrichtlinie (RED IV) das Ausbauziel für Erneuerbare in der EU auf 42,5 % bis 2030 festgelegt, das Europäische Parlament und die EU Kommission wollten ein Gesamtziel von 45 % Erneuerbare. Wir wollen die Ausbaulücke von 2,5 % über ein europäisches Auktionsprogramm schließen.
    • Mit europäischen Investitionsgarantien für Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs) und europäischen Differenzverträgen (CfDs), um finanzielle Risiken beim Erneuerbarenausbau abzumildern.
    • Die Finanzmittel sollen aus der Recovery and Resilience Facility (RRF) und dem Renewable Energy Financing Mechanism (REFM) bereitgestellt werden.
  • Atomenergie darf keine Förderung durch Differenzversträge bekommen.
  • Zweiseitige Differenzverträge können als mögliches Förderinstrument für Erneuerbare eingesetzt werden.
    • Das Ziel ist, dass das Förderinstrument, dass es sich selbst finanziert und die Mitgliedstaaten keine Haushaltsmittel für Differenzverträge aufbringen müssen.
    • Staatseinnahmen aus Differenzverträgen sollen an Haushalte, die von Armut betroffen sind, und an Industrien, die ihre Produktion nachweislich dekarbonisiert haben, gehen.
  • Langzeit-Stromabnahmeverträge (PPAs): Staatliche Garantien sollten nur für Strom aus Erneuerbaren gelten und nur für Kleinunternehmen und Energiegemeinschaften gelten.

 

Energy Sharing: Energiewende von unten


Bürger*innenenergie, Dach- und Balkonsolar und Co sind ein wesentlicher Teil der Energiewende. Bürger*innen (einzeln oder in Energiegenossenschaften/”energy communities" organisiert), öffentliche Einrichtungen und klein- und mittelständische Unternehmen sollen unbürokratisch grünen Strom produzieren, speichern und mit anderen teilen können.

  • “Plug-and-play”für Balkonsolar-Anlagen(Kapazität max 800 W).
    • Das bedeutet:
      • Beim Einspeisen von Strom läuft der Stromzähler rückwärts.
      • Es fallen keine Gebühren, Netzentgelte oder Steuern an.
  • Schnellere und vereinfachte Genehmigungs- und Anschlussverfahren für Erneuerbarenanlagen bis zu 10.8 kW installierter Kapazität und bis zu 50 kW Kapazität für Mehrparteienhäuser.
  • Stromversorger sollen nur Nettoverbrauch in Rechnung stellen, also Stromverbrauch minus eingespeiste Strommenge. Bildlich gesprochen, beim Einspeisen läuft der Zähler rückwärts.
  • Beim Einspeisen größerer Strommengen (installierte Kapazität größer als 800W) sollen angemessene Netzentgelte anfallen.
  • Transparente, vereinfachte Vertragsabschlüsse beim Produzieren, Speichern und Teilen von Erneuerbarem Strom für Bürger*innen, öffentliche Einrichtungen und klein- und mittelständische Unternehmen.


Soziale Gerechtigkeit und Verbraucher*innenschutz


Wir fordern ein europäisches Recht auf einen Grundbedarf an Energie. Für Menschen, die von Armut betroffen sind, sollen Stromsperren in der gesamten EU verboten werden.


Ein Energiesystem, das auf erneuerbaren Energien basiert, ist krisenfest und senkt langfristig die Preise für Verbraucher*innen.

  • Verbraucher*innen sollen die freie Wahl zwischen Fixpreisverträgen und Verträgen mit flexibler Preisgestaltung haben.
  • Einseitige Preiserhöhungen in befristeten Festpreisverträgen sollen verboten werden.
  • Verbraucher*innen haben Anspruch auf einen Unterzähler für Strom / intelligente Stromzähler (smart meter), mit denen sie ihren Stromverbrauch an die aktuellen Preise anpassen können (zum Beispiel für E-Autos oder Wärmepumpen).
  • So können sie von niedrigen Preisen profitieren und gleichzeitig einen Teil ihres Verbrauchs mit einem Festpreis absichern.
  • Solidaritätsbeitrag: Unternehmen aus dem Stromsektor sollen im Falle von Übergewinnen einen Solidaritätsbeitrag in Höhe von mindestens 33 % der Übergewinne an die Mitgliedstaaten abführen, wie es während der Energiekrise 2022 eingeführt wurde.
    Preisdeckel von 180 EUR/MWh in extremer Energiekrise: Eine extreme Energiekrise ist ein unvorhergesehenes Ereignis, das eine Preiskrise auf dem Großhandelsmarkt herbeiführt.
    • Diese Preiskrise ist so definiert:
      • Der Marktpreis ist 2,5 mal höher als der 5-Jahresdurchschnitt ist und voraussichtlich für weitere sechs Monate so hoch bleibt und die gesamte Volkswirtschaft von der Krise betroffen ist.
      • In Krisenzeiten sollen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, in die Preisgestaltung einzugreifen und Anreize zum Energiesparen zu schaffen.
      • Einnahmen aus Differenzverträgen sollen an Haushalte, die von Armut betroffen sind, und an Industrien, die ihre Produktion nachweislich dekarbonisiert haben, gehen.

Marktdesign im Detail

  • Die grundsätzliche Marktregeln (merit order) bleiben erhalten.
  • Offshore Windkraftanlagen erhalten eine Garantie für den Anschluss an Übertragungsnetze.
    • Falls Netzbetreiber eine volle Abnahme des Stroms der Offshore-Anlagen nicht sichern können, müssen Kompensationszahlungen an die Offshore-Windanlagen gezahlt werden.
  • Kurzzeit-Märkte sollen sich der Echtzeit (realtime) annähern.
    • Das bedeutet, der untertägige Handel soll ab 2026 erst 15 Minuten und ab 2028 fünf Minuten vor Realtime schließen.
    • Das ermöglicht es den erneuerbaren Energien, ihre Spitzenproduktion besser am Markt zu verkaufen.
      Terminmärkte: Um die Liquidität auf den Terminmärkten europaweit zu verbessern, sollen regionale virtuelle Handelspunkte (virtual hubs) eingerichtet werden.
  • Peak Shaving: Es soll ein Markt für “Peak Shaving Produkte” geschaffen werden, auf dem Marktteilnehmer*innen eine Vergütung erhalten, wenn sie ihren Verbrauch in Zeiten hoher Last kurzfristig reduzieren.
  • Speicherung und Lastensteuerung (demand response flexibility)
    • Netzentgelte sollen künftig so festgelegt werden, dass die Investitions- und Betriebskosten der Netzbetreiber berücksichtigt werden.
    • Marktzugang für kleineren Erneuerbaren-Produzent*innen, Speichern und Lastensteuerungs-Angebote (demand response)
    • EU-weite Bedarfsanalyse für Lastensteuerung

Wie geht es jetzt weiter?

Am 19: Juli soll der Bericht im Industrieausschuss (ITRE) angenommen werden. Auch die Mitgliedsstaaten wollen sich vor der Sommerpause auf ihre Verhandlungsposition einigen. Nach der Sommerpause sollen dann die Verhandlungen zwischen Parlament und Mitgliedsstaaten beginnen, denn in der Plenarsitzung im September ist nur eine Verkündung des Berichts aus dem Industrieausschuss vorgesehen und keine Abstimmung über weitere Änderungen.